Die Seele pflegen
„Ich bin schon den ganzen Morgen aktiv.“ Oder eher: „Ich habe heute schon so viel geschafft“, sagt die Anruferin, als ich abhebe.“ Erst hab‘ ich mich geduscht und angezogen, dann das Frühstück gemacht und gegessen. Danach hab‘ ich gesaugt und die Fenster alle geputzt. Eben habe ich noch das Mittagessen aufgesetzt.“ Sie seufzt und ihre Stimme klingt matt. Die Wohnung ist sauber, der Körper genährt. Nun ist die Seele an der Reihe. Die Anruferin macht eine Pause, hält inne. Sie wünscht sich, in diesem Moment des Innehaltens zu spüren, dass sie nicht alleine ist.
Es sind kleine Momente der Freude zwischendurch, die die Seele nähren: Freude an den rosa Blüten der Zimmerpflanze beim Vorbeigehen. Dankbarkeit für die Sonne des Herbsttages, die dank der sauberen Fenster wieder strahlend hereinkommen kann, und die sich auf der Haut angenehm und warm anfühlt. Das Gefühl eines frischen Luftzuges in den Haaren während des Lüftens. Sich mitzufreuen, wenn die fröhlichen Stimmen der Kinder vom Spielplatz her hinüberwehen. Es sind kleine Momente der Verbindung, die dem Tag einen tieferen Sinn geben: Der Kassiererin im Supermarkt mit einer freundlichen Stimme und einem Lächeln einen schönen Tag zu wünschen. Das zu teilen, was ich habe. Wir können nie wissen, welchen Unterschied wir im Leben einer anderen Person mit einer von Herzen kommenden Gabe bewirken können, und sei die Gabe auch noch so klein. Ein Lächeln, ein guter Gedanke, oder ein Segen – entweder ausgesprochen, oder im Stillen und aus der Ferne nur gedacht.
Die Seele sucht und findet ihre Nahrung im Alltag. Es braucht viele kleine Momente, in denen wir innehalten, um gewahr zu werden. In denen wir achtsam wahrnehmen, was um uns ist. In denen wir Dankbarkeit verspüren, für die Schönheit der Welt um uns. Die Seele im Alltag zu pflegen wird leichter durch viele kleine Verhaltensweisen, die man sich nach und nach zur Gewohnheit machen kann. Je mehr es uns gelingt, diese kleinen Rituale durch regelmäßige Übung zu verinnerlichen, desto seltener wird sich die Seele ausgelaugt fühlen.
Manchmal brauchen wir Hilfe, um in diese Haltung der achtsamen Wahrnehmung nach den Anstrengungen des Alltags wieder hinein zu finden. Aber immer wartet dort eine nie versiegende Quelle der Kraft, die stets bereit ist, die Seele zu nähren und zu stärken.
Am Ende des Gesprächs hat die Anruferin entschieden, in den Garten herauszugehen, um sich etwas Schnittlauch für ihre Suppe zu holen. Sie wird sich dabei Zeit lassen, um den „Tapetenwechsel“ wirken zu lassen. In ihrer Stimme klingt wieder mehr Lebensfreude mit und sie verspürt sogar ein wenig Stolz darauf, dass sie heute schon so viel geschafft hat.