Wen vermisst du?
Wieder ist der November da, am Beginn stehen Allerheiligen und Allerseelen - Tage, an denen wir uns daran erinnern, dass wir Menschen verloren haben, die einmal eine Rolle in unserem Leben gespielt haben, die wichtig waren, mit denen wir gemeinsame Erlebnisse verbunden haben.
Auch heuer werde ich ans Grab gehen, wenn auch erstmals nicht gemeinsam mit der ganzen Familie, sondern im kleinen Kreis oder alleine für mich. Ich werde all derer gedenken, die jetzt nicht mehr unter uns weilen. Ich werde vielleicht überprüfen, wie viele Jahre ein Grab schon im Familienbesitz ist und nachrechnen, wie lange es her ist, dass die Urgroßeltern, die Großmutter oder der Großvater, Mutter oder Vater nicht mehr mit mir sprechen und lachen können, mich trösten oder einfach nur an meiner Seite stehen.
Beim Gang über den Friedhof werde ich an den einen oder anderen Menschen denken, dem ich nie mehr lebendig begegnen kann und Erinnerungen werden wach, traurige und fröhliche, ernste und ausgelassene Bilder werden auftauchen.
Möglicherweise wird es wieder so sein wie jedes Jahr: Die große Dankbarkeit werde ich spüren dafür, dass ich verschiedenste Menschen kennenlernen durfte, dass wir Zeit miteinander verbracht haben, dass ich vom anderen lernen durfte, dass sie mit mir ein Stück meines Weges gegangen sind und nun in meinen Erinnerungen und in meinem Herzen lebendig sind. Unauslöschlich, so lange ich lebe, ist da eine Spur von ihnen in mir und davon kann ich zehren, davon kann ich erzählen, jedem der es hören mag.
Erzähle ich von der Jause mit der Oma, dann sehe ich innerlich ihren Siegelring an der Hand, den sie sich nach dem Tod des Großvaters kleiner machen ließ und der seither ihren Finger zierte. Erzähle ich vom Ballkleid, dass die Mutter mir nach meinen Vorstellungen genäht hat, dann sehe ich das Leuchten und den Stolz in ihren Augen, weil es sogar noch schöner war, als das Modell, das ich im Schaufenster gesehen und ihr beschrieben hatte. Dabei fällt mir dann auch die Freundin ein, die mit uns gemeinsam auch ihr Kleid nähte, die ich viel zu früh durch eine schwere Krankheit verloren habe. Bei der Polonaise strahlten wir im Doppelpack und das Leben lag festlich vor uns, ihr ansteckendes Lachen klingt heute noch in mir nach und stimmt mich heiter.
Jeder Verlust auf meinem Lebensweg war verbunden mit einer Phase des Erschreckens vor dem Unfassbaren, mit Ungläubigkeit und Schmerz und letztlich auch mit dem Wissen darum, dass ich mich nie vor neuerlichem Verlust werde schützen können.
Dass aber all das gemeinsam Gelebte in mir geborgen ist und die liebevollen Gefühle für meine Verstorbenen nicht durch den Tod verloren sind, sondern in mir weiterleben, das empfinde ich als ganz großen Trost.