Brief von Maja (86 Jahre)
An alle, die sich in der Corona-Zeit fadisieren, sich ärgern über die Einschränkungen, denen die Decke auf den Kopf fällt, die gereizt, traurig, lustlos oder voller Sehnsucht sind. Auch ich habe mich vor einigen Tagen aus der Öffentlichkeit entfernt und mir natürlich überlegt, was ich mit der vielen Zeit anfangen will. Hier ist meine Liste
- Ich habe 49 große Ordner mit Fotos von unseren Reisen seit 1970. Damit mache ich jeden Tag eine Reise in die Vergangenheit ohne Koffer und ohne Stress. Heute bin ich im Jahr 1990 in Tunesien, ich erlebe alles wieder und wundere mich gleichzeitig, wie mein Mann und ich damals ausgesehen haben – ganz schön attraktiv eigentlich.
- Im Vorzimmer am Fenster stehen Glasbehälter mit Sand, Muscheln und Schneckenhäusern. Ich bestaune die kleinen Wunderwerke, lasse den Sand durch die Finger gleiten und lese auf den bereits vergilbten Etiketten von welchem Strand sie stammen. Ich spüre den Sand zwischen meinen Zehen, sehe und höre Wellen, die an die Felsen klatschen. Wunderbar.
- Ich schreibe auf, was mir jetzt Erfreuliches passiert: Hilfsangebot einer ganz jungen Gartennachbarin. Anruf einer Enkelin. Die Sonne scheint vormittags ins Schlafzimmer. In Balkonien blühen all meine Violen um die Wette. Auch mein Kastanienbäumchen, 180 cm groß, entfaltet die kunstvollen Blätter: es ist gewachsen aus einer keimenden Kastanie, die ich auf dem Grab meines Mannes 2015 gefunden habe.
- Ich gönne mir hie und da einen Pyjamatag. Dann genieße ich wieder eine Dusche und creme mich danach ausgiebig ein. Ich ziehe mich nett an und benutze Parfum. Und dann lächle ich mir im Spiegel zu.
- Wunschliste schreiben: Was möchte ich gerne tun, was ist noch möglich? All die kleinen Orte besuchen im Burgenland, die ich mit meinem Mann bis 2007 bereist habe. Ich rufe eine Freundin an, sie wird mit mir reisen. Landharte hervorholen und Fahrt planen. Große Vorfreude.
- Schubladen ausräumen. Wer hat die vielen Brösel und undefinierbaren Fussel unter die Gabeln und Messer gestreut? Woher kommen die unzähligen Notizzetteln und Zeitungsausschnitte aus dem Jahre Schnee? Wozu brauche ich 999 Kochrezepte?
- Im Storchenschritt stolziere ich durch meine große Wohnung oder imitiere sonst irgendein Getier, etwa die Flügelprobe eines jungen Adlers im Nest.
So, jetzt ist es 13 Uhr. Meine älteste Tochter wird kommen und den Einkauf bringen (damit ich nicht verhungere …). Ich freue mich, auch wenn das Abstandhalten weh tut, denn wir sind eine Kuschelfamilie. Nächste Woche wird meine liebe Schwiegertochter meine Frisch-Gemüse-Liste abarbeiten und die Tasche distanziert deponieren.