Tränen dürfen sein
In manchen Gesprächen am Telefon oder im Chatroom möchte ich mein Gegenüber an die Hand nehmen und auf einen anderen Weg führen. Ich möchte sie wegführen vom Klagen über verständnislose Angehörige und davon, dass "alles so schrecklich ist". Ich möchte meinem Gegenüber dabei helfen, etwas Gutes in der Welt zu finden.
Aber umso mehr ich mich bemühe, desto größer wird die Mauer, die sich zwischen uns auftut. Denn mein Gegenüber möchte seine Blick noch nicht auf Positives lenken. Mein Gegenüber möchte erstmal verstanden werden.
Ich frage mich, warum ich wieder in die Falle getappt bin, Ratschläge zu geben und positive Wendungen herbeiführen zu wollen anstatt einfach nur zuzuhören.
Kürzlich habe ich in einem Gespräch gespürt, dass mich angesichts des Leides eine Angst überkommt, möglicherweise zu wenig für mein Gegenüber tun zu können.
Jetzt wo mir meine Angst bewusst ist und ich sie mir eingestehe, kann ich sie beruhigt zur Seite stellen und mich auf ein DU einlassen. Denn nur dann kann es vielleicht passieren, dass mein Gegenüber selbst vorsichtig ein bisschen weiter schauen mag und durch eine kleinen Spalt Licht ins Dunkel fällt.
Aber auch wenn wir im Dunklen sitzen bleiben, die Angst wird kleiner, wenn man sie haben darf und wenn man damit nicht allein ist. Manchmal löst sich dann bei meinen Mitmenschen ein Knoten und er weint.
Tränen dürfen sein. Sie können befreien.