Schwach sein? Dürfen nur die anderen!
„Ich dachte nur: Das gilt vielleicht für andere“ sagte mir vor kurzem eine Frau am Telefon. Es war Wochenende, abends. Sie rief an, weil sie das Gefühl hatte, es bis zur nächsten Therapiesitzung am Mittwoch darauf nicht mehr auszuhalten, ohne mit jemandem zu reden. Dass der Druck wieder zu groß werden würde, die Wolken wieder zu dunkel.
Bis sie endlich eine Therapie begonnen hatte, erzählte sie mir, war viel passiert. Eine unerfüllte Liebe, dann jahrelanges Ablenken durch Arbeit und Ignorieren aller Männer, die nächste unerfüllte Liebe, ein Pflegefall zu Hause, der 40. Geburtstag, noch immer kinderlos, der Verlust der guten Beziehung zu ihrem Bruder. Sie steigerte sich wieder in die Arbeit, holte sich dadurch Bestätigung, fühlte sich wichtig. Doch immer wieder kam das Wochenende. Wo es keinen Grund gab, für die Firma etwas zu tun. Irgendwann gab es auch im Haus nichts mehr zu reparieren. Und irgendwann kam dann Weihnachten. Ein alleine verbrachtes Weihnachten. Weil sie sich zu alt fühlte, um Weihnachten als Kind mit ihren Eltern zu verbringen. Weil die, mit denen sie es verbringen wollte, sich keine Zeit für sie nahmen. Weihnachten alleine ergab keinen Sinn, die Zukunft ergab keinen Sinn. Also verbrachte sie die Feiertage damit, sich einen schmerzlosen Weg aus dem Leben zu überlegen.
In diesen Tagen damals war jegliche Kraft aus ihr gewichen, sodass sie ihr Vorhaben nicht umsetzte. Als das neue Jahr begann, schaffte sie es wieder aus dem Haus und beschloss, noch nicht aufzugeben. Sie suchte sich eine Therapeutin. Diese sagte ihr in einer der ersten Sitzung: „Sie dürfen auch mal schwach sein.“ Genau das löste die zu Anfang erwähnte Reaktion aus: „Ich dachte nur: Das gilt vielleicht für andere.“
Ich glaube, dass diese Reaktion symptomatisch ist. Viele von uns sind Getriebene, haben das Gefühl, immer Leistung bringen, immer funktionieren zu müssen. Nicht schwach sein zu dürfen. Nicht anlehnungsbedürftig sein zu dürfen. Schief angeschaut zu werden, wenn sie sich öffnen. Es war schön, diese Geschichte zu hören, weil sie ein gutes Ende nahm. Die Frau hat ins Leben zurückgefunden. Aber nicht nur das: Sie hat auch gelernt, ihre schwachen Seiten zu akzeptieren. Hilfe zuzulassen. Sich zu trauen, sich an jemanden zu wenden.
Wir freuen uns immer darüber, Menschen auf diesem Weg ein Stück begleiten zu können. Dabei ist es ganz egal, ob sie am Anfang stehen und der Kontakt mit uns die erste Hürde oder ob sie mittendrin sind und nur akut jemanden brauchen, der die Situation mit ihnen gemeinsam aushält.